Walter Niedermayr - Usable Surface
Opening: 20.September 2024, 6pm
September - November 2024
Text zur Ausstellung
Walter Niedermayr - Mahnmale der Natur – die Gletscher
In der aktuellen Ausstellung „Usable Surface“ der Galerie Widauer zeigt Walter Niedermayr eine Auswahl von Werken der letzten beiden Jahre, in deren Fokus die Welt der Gletscher steht. Hier in Tirol gehören die Gletscher zu den Charakteristika des unmittelbaren Umfeldes. Ohne sie gäbe es ja auch die vielen Täler und Gebirgszüge nicht. Wir kennen alle die fünf Tiroler Gletscher im Kaunertal, Pitztal, in Sölden, im Stubaital und in Hintertux.
Niedermayr wählte für die Ausstellung unter anderem auch das Klein Matterhorn. Die Bergbahnen Zermatt machen mit folgenden Zeilen Werbung für besondere touristische Erlebnisse: „Matterhorn Glacier Paradise/ Die höchstgelegene Bergbahnstation Europas (3'883 m) mit neuem Restaurant setzt Massstäbe der Nachhaltigkeit. Das Panorama: atemberaubende italienische, französische und Schweizer Bergriesen. Auf dem Theodulgletscher ist das Skigebiet 365 Tage im Jahr offen.“1 Weiters finden sich in der Ausstellung Aufnahmen der Pitztaler Gletscher, der Hintertuxer Gletscher oder auch des Rettenbachgletschers.
Auf den ersten Blick scheinen es atemberaubende Landschaftsaufnahmen, welche die grandiosen Eislandschaften dokumentieren. Doch den Künstler interessiert besonders die Flächigkeit und Ausdehnung der Gletscher. Es sind riesige Flächen („surfaces“), die sich der Mensch zunutze macht („usable“). Er zeigt mit minimalen, subtilen Mitteln, wie der Mensch diese Urlandschaften unwiederbringlich verändert. Es ist ein Abgesang auf einen Zustand, der nicht wieder herstellbar ist. Die Intensität der Werke liegt im Wechselspiel zwischen den zunehmend eis- und schneelosen Gletscherformationen und dem Eindringen des Menschen, der diese Landschaften mit allen Mitteln „erobern“ will: Sessellifte, das Equipment für Touren, Lawinenschutzbauten, SUVs inmitten der Gebirgslandschaft, alles Indizien der Veränderungen nicht nur der Landschaft, sondern auch der klimatischen Bedingungen, mit beschleunigt vom Menschen. Und so hält man beim oben genannten Zitat inne und beginnt, über die Situation nachzudenken. Ein Skigebiet ganzjährig für alle geöffnet, ein Restaurant auf fast 4000 Metern Höhe. Ist es das, wonach der Mensch in seiner Freizeit strebt?!
Niedermayrs Werke sind jedoch nie einfache, ökologisch motivierte Warnungen. Der Künstler wertet nicht, er dokumentiert. Durch die collageartige Serialität der Bilder irritiert er unseren Blick und durchbricht gewohnte Wahrnehmungsweisen. Und gerade darin liegt die Wucht seiner Bilder. Allmählich wird uns bewusst, wie sich die Natur im wahrsten Sinne des Wortes zurückzieht und eine steinige, kahle und öde Landschaft sichtbar wird. Wir verstehen das Prinzip eines kommunizierenden Gefäßes: Die Gletscher ziehen sich zurück, und dies bedeutet zugleich den Anstieg des Meeresspiegels. Studien zeigen anschaulich, dass die Gletscher seit 1961 mehr als 9.000 Milliarden Tonnen Eis verloren.2 Zugleich steigt der Meeresspiegel bedrohlich an. Landstriche werden durch Überflutungen unbewohnbar, Salzwasser dringt ins Grundwasser, Küstenregionen sind durch Wirbelstürme und Hochwasser dauerhaft gefährdet. Diese Intention des Künstlers wird auch in seinen Videos sichtbar.
Die Qualität der Werke Niedermayrs liegt in der Distanz zwischen der Intensität der Bildkompositionen und der Natur. Der Künstler ist Zeuge, Dokumentar eines Ereignisses, das nicht nur von sozio-ökologischer Relevanz ist, sondern den Menschen auch mit existenziellen Reflexionen zur eigenen Geschichte konfrontiert. Gletscher sind auch Eis gewordene Spuren der Zeit. Die Bilder des Pitztaler Gletschers etwa scheinen fast futuristische Visionen einer endzeitlichen Gebirgslandschaft. Die Stahlkonstruktion der Wildspitzbahn des Architekturbüros Baumschlager Hutter Partners ist formale Analogie zur zerklüfteten Landschaft. Die eindrucksvollen Bildkonstruktionen veranschaulichen die Veränderungen: ein SUV, ein Bagger, eine Schneekanone, Stahlseile, das geschäftige Treiben und die Vorbereitungen zum Skifahren, im Hintergrund die kahlen, schneefreien Felswände. Die Schönheit des Dargestellten hat einen bitteren Beigeschmack.
Beeindruckend ist auch eine weitere neue Werkgruppe Niedermayrs, Dokumentationen von „Relikten“. Sie sind Beispiele einer Veränderung der Gebirgslandschaft: verlassene Hütten, Holzstapel, die nicht mehr gebraucht werden, Spuren der Zivilisation inmitten einer urzeitlichen Landschaft.
Um die physische Wirkung auch im Ausstellungsraum erfahrbar zu machen, lässt der Künstler uns buchstäblich auf Gletschern wandern. Plötzlich beginnen wir nachzudenken und erfassen, wie wir grundsätzlich mit der Natur umgehen. Gerade in einer Region wie Tirol hinterfragen wir vermeintlich Vertrautes. Die Gletscher sind nicht mehr selbstverständlicher, touristisch attraktiver Bestandteil der lokalen Identität. Vielmehr ist der Mensch mitverantwortlich für erdzeitgeschichtliche Veränderungen.
Inmitten der durch Niedermayr intendierten faszinierenden Präsenz Jahrtausende alter Gebirgsformationen visualisiert er zugleich die Folgen menschlichen Handelns in Bezug auf die Natur. Ein vielleicht düsterer, aber realistischer künstlerischer Blick auf fundamentale Veränderungen des Planeten.
Gaby Gappmayr 2024
1 https://www.zermatt.ch/Media/Attraktionen/Matterhorn-Glacier-Paradise. [Zugriff 31.08.2024]
2 https://www.uibk.ac.at/de/newsroom/2019/gletscherschmelze-laesst-meeresspiegel-immer-staerker-ansteigen/#:~:text=Das%20geschmolzene%20Eis%20der%20Gletscher%20macht%20damit%2025%20bis%2030,übersteigt%20deutlich%20den%20der%20Antarktis.[Zugriff: 31.08.2024]